Diskussionsbeitrag von Prof. Dr. Manfred Klatte (DIE LINKE) beim Sonderkreistag
Die §§ 34 und 42 KJHG regeln die Heimerziehung und Inobhutnahme. Das sind Maßnahmen, die das Recht und die Pflicht von Eltern auf Erziehung der Kinder in starkem Maße beeinträchtigen, sich jedoch zum Wohle der Kinder als unausweichlich darstellen.
Drei Beispiele aus dem Landkreis sind Beleg dafür:
- Eine Familie hat zwar viele elektrische Geräte, aber trotz mehrerer Mahnungen – die Stromrechnung bezahlt sie nicht. Folge: der Strom wird abgestellt. Nichts geht mehr. Die Kinder müssen in Obhut genommen werden.
- Ein Kind hat eine unheilbare Stoffwechselkrankheit. Es muss ständig medikamentös behandelt werden. Die Mutter vernachlässigt das permanent, dem Kind drohen schwerwiegende gesundheitliche Folgen, evt. der Kindestod. Das Jugendamt handelt und bringt das Kind in ein Heim zur Inobhutnahme.
- Ein allein erziehender Vater, schwer alkoholkrank, verbrennt die Betten seiner Kinder, da kein Holz mehr da ist. Die Kinder schlafen auf Matratzen. Der Vater fällt ins Koma und stirbt. Verwandte sind kurzfristig nicht auffindbar. Die Kinder werden in Obhut genommen.
Der Landkreis verfügt in drei Heimen über 11 Plätze für die Inobhutnahme mit der Option auf 15. Im Prinzip sind alle Plätze ausgelastet. Wenn dann, wie in der vorigen Woche, 4 syrische Kinder plötzlich ohne Mutter da stehen, heißt das für die Mitarbeiter im Jugendamt: „Alarmstufe rot“. Nun müssen in anderen Heimen des Freistaates Plätze gesucht und gefunden werden – und das wird noch terer. In der BPD werden jährlich 32.000 Kinder in Obhut genommen (RTL am 5. Januar), im Landkreis waren es 2013 146, etwa so viel wie in den Jahren zuvor. Die Kosten erhöhten sich von 2011 288.000 Euro auf 2013 690.000 Euro.
Für stationäre Maßnahmen stehen im LK 200 Plätze zur Verfügung, davon 63 in vier größeren Einrichtungen, alle anderen bei einer Vielzahl Freier Träger.
Offensichtlich sind die Kapazitäten der sozialen Erfordernisse angepasst. Die Anzahl der aufgenommenen Kinder hat sich deutlich erhöht. Waren es im Jahr 2011 307 Kinder, so sind 2013 351 Kinder und Jugendliche stationär untergebracht worden. Die Vereildauer stieg von 3,34 Jahre auf 3,75 Jahre, die Kosten für die Heimerziehung von 2011 auf 2013 von rund 7,4 Mio. auf 10,4 Mio. Euro. Im Durchschnitt der Bundesrepublik kostet ein Heimplatz im Jahr 45.000 Euro, ein Pflegeplatz dagegen 14.000 (Spiegel Nr. 1 vom 30.12.2013, S. 5). Das dürfte auch etwa der Rahmen für die Kosten im LK sein, der Kostenspiegel etwas niedriger.
Zahlen hin, Zahlen her.
Aber die Statistik zeigt eines ganz deutlich und untrügerisch: die zunehmenden sozialen Verwerfungen, genauer eigentlich den zunehmenden sozialen Niedergang von Teilen einer gesellschaftlichen Schicht. Und da verwundert es schon, wenn Ministerpräsident Tillich in seiner Laudatio für Herrn Barroso auf dem Semperopernball 2014 die Lage im Freistaat als „blendend“ bezeichnet. Ein gewisser Verlust des Realitätsbewusstseins ist da nicht auszuschließen. Die Sozialwissenschaft beschreibt den sich hier vollziehenden Prozess so: „Die steigenden Fallzahlen … sind in einer Verbindung zu den sich verschlechternden sozioökonomischen Lebenslagen für Familie und den brüchiger werdenden Familienkonstellationen zu sehen.“ (Tabel, Fendrich, Pothmann: Komdat 3/11 nach Prof. Gintzel, Vortrag am 23.01.2014 in Görlitz)
In einem Artikel im Spiegel vom 30.12.2013 wird als Folge dieses Negativtrends mit Bezug auf die Tätigkeit von Sozialarbeitern formuliert: „Aus der ehemaligen Fürsorge für gestrandete Kinder ist ein Reparaturbetrieb für die auseinanderdriftende Gesellschaft geworden. Kinder sind die ersten Opfer der Probleme Erwachsener: Schulden, Sucht, psychische Erkrankungen, exzessiver Medienkonsum.“ An dieser Stelle ist es angesagt, allen Sozialarbeitern, egal, wo sie tätig sind – bei den Freien Trägern, in den Heimen und in der Verwaltung des Jugendamtes – hohes Lob und Anerkennung für ihre Professionalität und ihr Engagement für das Kindeswohl zu zollen. Das schließt die Pflegefamilien ein.
Die negative soziale Entwicklung kostet die Gesellschaft jährlich mehr Geld. Ein Beispiel für die Heimerziehung im Kreis Görlitz wurde genannt. Wenn, wie der Landrat in einer Sitzung des JHA erklärte, die jährlichen Steigerungsraten der Ausgaben für die Jugendhilfe bundesweit 10% betragen, so wären das in unserem Landkreis eben etwa die 3,5 Mio. Euro, die uns fehlten – und uns im nächsten Jahr wieder fehlen werden, weil die soziale Schieflage andauern wird. Wenn das so sein wird, und die Regierung im Freistaat diese Entwicklung nicht stoppen können wird, dann muss sie zumindest die Finanzen für die Jugendhilfe vom Kopf auf die Beine stellen, das heißt Erhöhung der jährlichen Schlüsselzuwendungen um mindestens 10%… Die CDU als regierende Partei in unserem Freistaat muss doch die Gefährlichkeit dieser Entwicklung für den sozialen Frieden im Land und die Handlungsfähigkeit der stattlichen Verwaltungen erkannt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die zu unserem Hause gehörenden politischen Schwergewichte wie der Generalsekretär der Landes-CDU, Herr Kretschmer, und der Bildungspoltische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Herr Bienst, den Ernst der Situation nicht sehen. Bitte nehmen Sie ihre persönliche Verantwortung und die Verantwortung ihrer Partei zur Befriedung der gravierenden Probleme in der Jugendhilfe wahr. Dazu gehört m. E. auch die Rücknahme der Kürzung der Jugendpauschale. Den Freien Trägern der Jugendhilfe in unserem Kreis muss eine solide präventive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gewährleistet werden, die nun schon zweimal erfolgte Kürzung von VZÄ im Bereich Jugend- und Jugendsozialarbeit kann und muss rückgängig gemacht werden, um der vorausschauenden Sozialarbeit wieder die notwendige Wichtung zu sichern. Es geht um das Wohl unserer Kinder, um unser aller Zukunft.